Gibt es Teile Ihrer Persönlichkeit, die Sie vor der Welt oder sogar vor sich selbst verstecken? Vielleicht sind Sie jemandem in Ihrem Freundeskreis böse oder beneiden ein Geschwisterteil um den Beruf oder die Beziehung. Statt uns diesen unangenehmen Gefühlen zu stellen, vergraben wir sie oft tief in unserem Inneren.
Laut dem Psychiater Carl Jung entsteht durch unsere Tendenz, bestimmte Seiten von uns zu verdrängen, das, was er den „Schatten“ nennt – einen Teil in uns, den wir alle haben. Es ist der Teil unserer Persönlichkeit, den wir versuchen zu leugnen und abzuweisen.
Unseren Schatten zu ignorieren, lässt ihn jedoch nicht verschwinden. Stattdessen zeigt er sich oft auf andere Weise – zum Beispiel durch passiv-aggressives Verhalten, Vorurteile oder emotionale Erschöpfung. Ironischerweise übernehmen dann genau die Anteile die Führung, die wir eigentlich unterdrücken wollten.
Jung war überzeugt, dass man eine gesunde Beziehung mit dem eigenen Schatten führen sollte, statt ihn zu vernachlässigen. Diese Herangehensweise nennt sich „Shadow Work“ – also Schattenarbeit. In diesem Artikel erforschen wir, was Shadow Work überhaupt ist und wie diese Technik Ihnen helfen kann, ein ausgeglicheneres Leben zu führen.

Jungs Theorie der Schattenarbeit
Um zu verstehen, wie viel Macht unser Schatten über unsere Handlungen und Gefühle überhaupt hat, müssen wir uns Jungs Theorie der menschlichen Psyche genauer anschauen. Jung ging davon aus, dass die menschliche Psyche aus drei Teilen besteht:
Das Ego: unser Bewusstsein und unsere Identität, welche die Gedanken, Intuitionen und Gefühle organisieren, die nicht unterdrückt sind.
Das persönliche Unbewusste: der Ort, wo vergessene oder unterdrückte Erinnerungen leben, auf die wir keinen Zugriff haben. Hier ist auch unser Schatten zu finden.
Das kollektive Unbewusste: die gemeinsame Grundlage aller Menschen, in der alle Persönlichkeitsmerkmale bereits bei unserer Geburt unbewusst verankert sind.
Während wir aufwachsen und unsere Persönlichkeit durch unser Umfeld geprägt wird, wird manches ausgedrückt und anderes unterdrückt. Das Ego, welches die volle Kontrolle über unser Bewusstsein hat, hilft uns, Sachen zum Ausdruck zu bringen, während unser Schatten all das aufnimmt, was wir unterdrücken und vor der Welt verbergen wollen.

Die Schattenseite verstehen
Je mehr wir uns vor Verurteilungen fürchten und demonstrativ unsere negativen Seiten verdrängen, desto dunkler wird unser Schatten. Als grundliegender Teil unserer selbst kann er nicht für immer unterdrückt werden. Jung war der Meinung, dass ein Schatten, der zu lange ignoriert wird, die Kontrolle übernehmen kann, indem er sich durch negatives oder gar zerstörerisches Verhalten bemerkbar macht.
Stellen Sie sich vor, Sie verbringen Zeit mit einigen Freunden und plötzlich sagt jemand etwas, dem Sie absolut widersprechen. Sie werden die Person jedoch nicht darauf ansprechen, um keinen Aufruhr zu verursachen. Ihre unterdrückten Gedanken und Gefühle verschwinden aber nicht, sondern werden zu einem Teil Ihres Schattens.
Je stärker wir versuchen, unseren Schatten zu unterdrücken, desto mehr gewinnt er an Kraft. Wenn Sie also permanent schweigen, wenn jemand etwas sagt oder tut, das Sie aufregt, besteht die Gefahr, dass Sie letzten Endes die Kontrolle verlieren und es zu einem überraschenden Gefühlsausbruch kommt.
Diese Art Ausbrüche haben oft ihre Wurzeln in der Kindheit. Vielleicht wurde Ihnen nie beigebracht, negative Emotionen in gesunder Weise auszudrücken. Stattdessen haben Sie gelernt, allerlei Konfrontation zu vermeiden und nie einen Streit zu beginnen – somit haben sich die negativen Gefühle ohne weiteren Ausweg in Ihnen aufgestaut, bis sie eines Tages explodiert sind.
Um solchen Ausbrüchen vorzubeugen, müssen wir unsere Schattenseite anerkennen und unserem Leben anpassen. Diesen Prozess nennen wir Shadow Work.
Das Ziel von Shadow Work ist es, die unterdrückten Aspekte unserer Persönlichkeit ans Licht zu bringen und uns gleichzeitig zu helfen, diese Seiten zu akzeptieren und zu lieben. Denn unsere Schattenseite ist nicht bösartig. Vielmehr ist sie als Teil unserer menschlichen Natur zu betrachten, etwas, das uns immer dann beschützt und geholfen hat, wenn es nötig war.

Schattenarbeit leicht gemacht: 4 Schritte für den Einstieg
Es gibt verschiedene Methoden, die uns dabei unterstützen, ein harmonischeres Leben zu führen und negative Emotionen zu bewältigen.
In den nächsten Abschnitten stellen wir Ihnen vier Herangehensweisen vor, die Ihnen den Einstieg in die Schattenarbeit erleichtern und den Kontakt zu Ihrem Schatten-Selbst herstellen.
1. Fragen zur Selbstreflexion
Ziel der Selbstreflexion ist es, sich mit unserem Schatten auseinanderzusetzen und ihm Gehör zu verleihen. Stellen Sie sich den Prozess so vor, als würden Sie mit einer Taschenlampe einen großen, dunklen Raum erforschen. Sie werden nicht gleich alles zu sehen bekommen, haben jedoch eine bessere Idee von dem, was Sie vorher überhaupt nicht sehen konnten.
Welche Eigenschaften anderer lösen starke Gefühle in mir aus?
Unsere emotionalen Reaktionen auf andere Menschen spiegeln oft Teile unserer Persönlichkeit wider, die wir verleugnet und unterdrückt haben. Es kann sich herausstellen, dass Eigenschaften, die uns an Anderen stören, eigentlich Sachen sind, wegen derer wir uns selbst schämen würden.
In welchem Kontext verberge ich meine wahren Gefühle?
In manchen Situationen oder um bestimmte Menschen herum kann es sein, dass wir mit unseren echten Gefühlen sehr zurückhaltend sind. Das ist zwar in einem professionellen Umfeld hilfreich, kann aber bei unseren persönlichen Beziehungen – mit einem Partner oder bei guten Freunden – zum Hindernis werden.
Was glaube ich, was andere Menschen über mich denken?
Die Gedanken, die wir anderen Leuten unterstellen, spiegeln oft unsere Einschätzung über uns selbst wider. Statt diesen Gedanken dann auf den Grund zu gehen, greifen wir andere eher an.
Welche Teile von mir versuche ich zu verbergen/leugnen/vergessen?
Unser Schatten hält viele vergangene Erfahrungen und persönliche Eigenschaften fest, die für uns unangenehm oder gar schmerzhaft sind. Indem wir uns mit diesen versteckten Seiten auseinandersetzen, können wir mehr über den Antrieb unseres Verhaltens im täglichen Leben lernen und herauskriegen, was genau uns zurückhält.
2. Reaktionen und Gefühle beobachten
Das Beobachten unserer Emotionen und Reaktionen kann uns helfen, besonnener zu reagieren und zu handeln. Denn reagieren wir zu schnell, ergreifen unsere Emotionen die Kontrolle und es ist schwieriger herauszukriegen, was uns eigentlich stört.
Dieses Verhalten kann die wahren Ursachen von Wut, Eifersucht, Angst oder anderen negativen Gefühlen verbergen. Dadurch wird unser Schatten jedoch mit der Zeit immer dunkler und schwerer greifbar.
Bezeichnen Sie zu Beginn einfach die negativen Emotionen, die Sie empfinden, mit den passenden Begriffen. Indem wir diesen Gefühlen bestimmte Namen zuordnen, können wir sie besser objektiv betrachten.
Achten Sie auf die negativen Gefühle, die am häufigsten auftreten. Bedenken Sie, in welchem Kontext diese auftreten. Somit haben Sie bereits Kontakt mit Ihrem Schatten aufgenommen – die unterdrückten Aspekte sind nicht mehr in der Dunkelheit zurückgelassen, sondern werden ans Licht gebracht.
Sobald Sie gelernt haben, Ihre Emotionen und Reaktionen bewusst zu beobachten, sind Sie besser darauf vorbereitet, Ihrer inneren Stimme aufmerksam zuzuhören.
3. Kontakt zur inneren Stimme
Jeder hat in der Kindheit gewisse Stimmen verinnerlicht, die bis ins Erwachsenenalter anhalten. Es sind die Stimmen unserer Eltern und kulturellen Erziehung. Diese Stimmen können hilfreich, kritisch, verletzend, irreführend oder liebevoll sein, aber letzten Endes verinnerlichen wir sie und vergessen oft, wo sie ihren Ursprung hatten.
Konflikt entsteht dann, wenn wir im späteren Leben neue Beziehungen führen und diesen Aussagen widersprechen, da sie nicht mit dem übereinstimmen, was wir seitdem über uns selbst erfahren haben. Je mehr wir diese inneren Stimmen und ihre Ursprünge missachten, desto mehr wächst unser Schatten und umso kritischer wird unser innerer Dialog. Wir müssen lernen, diesen verinnerlichten Stimmen etwas entgegenzusetzen.
Meditation und Journaling sind zwei gute Wege, um einen inneren Dialog zu starten. Beim Meditieren geben wir den Stimmen ausreichend Platz, um gehört zu werden. Wir können beobachten, welche Gefühle wir im Moment empfinden, und diese Gedanken kommen und gehen lassen. So können wir uns darauf einstellen, wie unsere Stimmen klingen und wo ihr Fokus liegt.
Je klarer diese Stimmen werden, umso mehr lernen wir, was es eigentlich mit ihnen auf sich hat. Oft versuchen diese Stimmen, uns zu beschützen, jedoch müssen wir verstehen, vor was genau sie uns behüten wollen und warum gerade in dieser Art.
Hier kann Journaling eine aktive Hilfe sein, die sich mit unserem inneren Dialog auseinandersetzt. Dabei können wir unseren inneren Stimmen gleichzeitig zuhören und antworten, was unsere Beziehung zu unserem Schatten verbessert.
4. Führen Sie ein Schattenarbeit-Journal
Als sehr persönlicher und überaus wirkungsvoller Prozess kann ein Schattenarbeit-Journal zu einem der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Selbsterkenntnis werden. Solch ein Journal ist im Grunde ein Tagebuch, in dem Sie Ihre Schattenarbeit festhalten. Es wird heutzutage auch Shadow Work Journal genannt. Wir haben Ihnen einige Tipps zur achtsamen und produktiven Führung Ihres eigenen Tagebuchs zusammengestellt:
Schaffen Sie ein schönes Umfeld
Selbstreflexion geschieht am besten dort, wo Sie sich wohlfühlen. Wenn Sie Einträge schreiben, sollten Sie sich in einem angenehmen Umfeld aufhalten und die Schreibmaterialien (Handy, Notizbuch, Computer etc.) Ihrer Wahl benutzen.
Legen Sie Ihre Absicht fest
Seien Sie sich im Klaren darüber, warum Sie eigentlich hier sind. Beginnen Sie mit einer kurzen Aussage („Ich bin hier, um mich selbst besser zu verstehen und keine Urteile zu fällen.“). Eine offene und verständnisvolle Einstellung ist hierbei hilfreich.
Lassen Sie sich inspirieren
Eine leere Seite kann einschüchternd sein. Zum Glück gibt es einige Vorlagen, die speziell zur Führung eines Shadow-Journals kreiert worden sind. Nutzen Sie die in diesem Artikel schon genannten Fragen zur Selbstreflexion als Inspiration und bauen Sie beim Schreiben weiter darauf auf.
Üben Sie Beständigkeit
Übung macht den Meister, und mit Ihrem Schattenarbeit-Tagebuch ist es nicht anders. Planen Sie in der Woche ein oder zwei Tage ein, um sich Ihren Einträgen zu widmen. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn es Ihnen schwerfällt, die richtigen Worte zu finden – tun Sie sich keinen Zwang an, Inspiration kommt ganz von allein.
Beobachten, nicht bearbeiten
Ihr Shadow-Journal ist kein formelles Schreiben. Lassen Sie Ihren Ideen freien Lauf und schreiben Sie ohne Hemmungen. Manchmal führt das zu einem chaotischen, vielleicht sogar unverständlichen Ausdruck, bei dem Ihr Schatten jedoch ungehindert zu Wort kommt. Beobachten Sie, was in diesem ungefilterten Zustand ausgedrückt wird, und lassen Sie es dabeibleiben.

Lernen Sie, Ihre Schatten zu erforschen und anzunehmen
Hoffentlich ist Ihnen nun Jungs Theorie des Schattens verständlicher und der Anfang Ihrer Shadow-Work-Reise erleichtert worden. Wenn Sie tiefer in die Auseinandersetzung mit Ihrer Schattenseite eintauchen möchten, wenden Sie sich bitte an einen Therapeuten, der auf analytische Psychologie und Shadow Work spezialisiert ist. Selbstreflexion findet am sichersten unter der Führung einer Fachperson statt.
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